DAS SCHUHPHÄNOMEN

 

Es gibt ein Phänomen unter den Szene-Klamotten, das als einziges seiner Art von wirklich jeder Underground-Gruppierung der letzten 40 Jahre als Kultobjekt anerkannt wurde: die guten alten, urgemütlichen, unkaputtbaren, hammerharten, mütterschockenden und von Lehrern gehassten, dennoch heiß geliebten und täglich frisch geputzten Doc Martens Boots. Dabei widerspricht dieses Phänomen des Identifikationsobjekts für ALLE Szenegruppen eigentlich dem Sinn des Begriffs „Kult“ an sich. Macht es doch gerade das Einzigartige einer Sache aus, dass sie nur einer sehr kleinen, genau definierten und eher undurchlässigen Gemeinde von Eingeweihten vorbehalten ist, die sich über den Besitz gerade jenen Objekts definieren. Wie konnte es also einem unscheinbaren schwarzen Arbeitsschuh gelingen, jenes ungeschriebene Gesetz der Exklusivität zu durchbrechen und innerhalb seiner 41-jährigen Geschichte quasi zum szeneübergreifenden Lieblingsschuh zu mutieren?

 

Jedem, der irgendwann in seinem Leben schon mal das Vergnügen hatte, seine Füße und sein Ego mit einem Doc Martens Schuh zu verwöhnen, fällt sicher auf Anhieb ein ganzer Schuhkarton voll Gründe ein. Einerseits ist die medizinische Überlegenheit dieses anatomisch geformten und luftgefederten Schuhwerks selbst in Fachkreisen unumstritten. Schließlich war der geniale Erfinder, ein gewisser Dr. Maertens aus dem bayrischen Seeshaupt, seines Zeichens Doktor der Medizin und wußte demzufolge, was er tat, als er nach einem schweren Skiunfall seinen schmerzenden Gliedern Linderung zu verschaffen suchte. Gemeinsam mit seinem alten Kumpel bastelte er aus alten Offizierslederhosen, die glücklicherweise so kurz nach dem Krieg, im Jahre 1945, in rauen Mengen zur Verfügung standen, und aus altem Luftwaffe-Gummi den Prototypen des späteren Kassenschlagers.

 

Dennoch, bei allem Respekt, der gesundheitliche Aspekt der luftgefüllten Sohle, die den Träger sozusagen vollkommen fußfreundlich über Kopfsteinpflaster und Gullydeckel hinwegschweben lässt, kann wohl kaum der wahre Grund sein, warum sich die Doc’s zum Objekt der Begierde unzähliger Jugendlicher entwickelt haben. Wohlgemerkt – Jugendlicher! Wäre hier die Rede vom Lieblingsschuh auf Kaffeefahrten oder in Seniorenclubs, läge die Vermutung schon näher, dass die Millionen Träger ihren müden Gliedern mal was Gutes tun wollen und sich deshalb für den simplen schwarzen Schuh des klugen Doktors mit dem netten Lächeln entschieden haben.

 

Die wahren Träger jenes Schuhs jedoch sind alles andere als seniorenkompatibel: Der klobige Schuh begann seinen Siegeszug durch den Untergrund mit dem Aufkommen der Skinhead-Szene in den Londoner Arbeitervierteln der frühen Sechziger. Die stolzen Großstadtkrieger legten großen Wert auf ihre Wurzeln in der rauen Working Class, schon allein um sich vom love-peace-and-harmony-Gedudel der meist aus der Mittelklasse stammenden Hippies klar abzusetzen. Kurze Haare, karierte Hemden, robuste Jeans und festes Schuhwerk demonstrierten anschaulich das harte Leben der working class kids. Es dauerte gar nicht lange, bis die Londoner Skins die Doc’s als unschlagbares Accessoire auf all ihren Wegen zu schätzen lernten. Angeheizt durch Filme wie „Quadrophenia“ oder „Clockwork Orange“ (dessen Darsteller übrigens gar keine richtigen Doc’s tragen!), war der Eindruck schindende Schuh aus der Szene bald nicht mehr wegzudenken.

 

Dieser Umstand wäre normalerweise das Todesurteil für einen Gebrauchsgegenstand gewesen. Wird nämlich ein Objekt erst einmal eindeutig mit einer bestimmten Szene assoziiert, dann ist er auf Gedeih und Verderb dem Aufstieg und Fall dieser Bewegung ausgeliefert. Dem pfiffigen Doc Martens Boot gelang jedoch etwas, was ihm das Überleben auf viele weitere Jahrzehnte sicherte: Er wurde szeneübergreifend geliebt. Nach den Skins entdeckten die Punks die unschlagbaren Vorzüge des robusten, aufsehenerregenden und manchmal furchteinflößenden Schuhwerks, und nebenbei entdeckten dies auch noch eine ganze Reihe von Rockgrößen und deren Gefolgschaft sowie die Londoner Polizei, in deren Dienstkleidungsvorschrift Doc Martens schon lange zur Standardausrüstung gehören. Die Liste der bekennenden Doc Martens Fans ist länger als alle roten, weißen, schwarzen oder neongrünen Schnürsenkel zusammengeknotet: Pete Townsend von „The Who“ reiht sich in trauter Eintracht neben Elton John, der anno 1975 auf überlebensgroßen Doc’s stehend im Musical „Tommy“ rauschende Erfolge feierte. Ob The Clash, The Stranglers, The Damned, The Specials, Madness, The Cure, Morrissey, Depeche Mode, Sinéad O’Connor, Nirvana, The Manic Street Preachers, Blur, Slayer, The Prodigy, No Doubt oder die venerablen Red Hot Chili Peppers – für sie alle stehen Doc Martens für dieses ganz spezielle Lebensgefühl, das man je nach Belieben Freiheit oder Sex oder Rock’n’Roll nennen kann.  

 

DM’s in Chemnitz

Neben den ultra-coolen DM-Fans, die es auch vor der Wende schon irgendwie geschafft hatten, sich ein Paar der heißbegehrten Boots zu besorgen, ging der Doc Martens Boom erst 1992 in Chemnitz so richtig los. Besonders, nachdem ein Szenekenner die Zeichen der Zeit erkannt hatte und in Chemnitz den Laden eröffnete, der auch heute noch die Exklusivlizenz unter den Chemnitzer Filialisten für den Verkauf von Doc Martens besitzt. Rund 600 Stück gehen pro Jahr über den Ladentisch im Chemnitzer Szeneshop The Clash. Ganz schön viel für unsere Stadt, wenn man bedenkt, dass die Gesamtproduktion für Deutschland seit Jahren auf 300.000 Stück begrenzt ist! Am besten, so bestätigt Udo Nagrotzki, einer der Inhaber, gehen immer noch die Klassiker: Der 8-Loch Stiefel in schwarz oder cherry, mit gelber Naht, wie es sich für einen echten Doc Martens gehört. Und da die Doc’s mittlerweile seit über 40 Jahren auf dem Markt sind – am 1.4.1960 war der offizielle Geburtstag der Marke - wundert es nicht, dass der coole Klassiker auch in Kinder- und sogar Babygrößen ein echter Renner ist. Schließlich muss man ja auch als Rock-Mutti oder Punk-Vati auf ein einheitliches Erscheinungsbild der Familie achten.

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